Aus der Süddeutschen Zeitung:
Man stelle sich folgende Szene am Strand vor: Ein mit Plastiktüten vollbeladener Müllwagen fährt ans Ufer, kippt seine Ladung ins Meer und fährt davon. Eine Minute später kommt der nächste Plastiklaster und schüttet seine Fracht aus. So geht das 60 Mal pro Stunde, 1440 Mal am Tag, mehr als eine halbe Million Mal im Jahr.
Das Bild entspricht nach derzeitigem Kenntnisstand der Wahrheit – rund acht Millionen Tonnen Plastik gelangen jedes Jahr in die Meere. Macht genau einen Müllwagen pro Minute, warnen die Autoren einer Studie, die diesen Freitag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos präsentiert wird. Es ist nicht der einzige beschämende Vergleich des Papiers. Die Menge des Plastiks, die bereits im Meer schwimmt, wird von Wissenschaftlern auf 150 Millionen Tonnen geschätzt – auf drei Kilo Fisch kommt damit bereits ein Kilo Kunststoff. Und der Kunststoff holt auf: Läuft die Entsorgung von Plastik weiterhin so schlecht wie bislang, so könnte bis 2050 das Plastik im Ozean mehr wiegen als alle Fischschwärme zusammen, warnen die Autoren. Außerdem wäre man dann bei vier Müllwagen pro Minute angelangt.
Fünf Länder sind für die Hälfte des Plastikmülls verantwortlich
Ausgearbeitet hat die Studie die „Ellen MacArthur Foundation“, eine Organisation, die sich weltweit für mehr Recycling einsetzt. Genau genommen sind die Mengenangaben, die in Davos präsentiert werden, nicht neu. Die Autoren haben sie aus vielen aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten zu einem eindrucksvollen Bild verwebt. So hat sich die Produktion von Plastik in den vergangenen fünfzig Jahren verzwanzigfacht, laut Branchenverbänden auf nun 311 Millionen Tonnen pro Jahr. In den kommenden 20 Jahren soll die Menge sich noch einmal verdoppeln. Die Autoren argumentieren, im Müll steckten auch wirtschaftliche Chancen. Schließlich würden enorme Ressourcen verschwendet, die man besser nutzen könnte, als sie ins Meer zu kippen. Der Ellen-MacArthur-Stiftung schwebt vor, viel mehr Plastik als bislang zu recyceln, um sie erneut als Grundstoff in der Industrie einzusetzen. Falls es in diesem Kreislauf Lecks gibt, müsste das Plastik zumindest „biofreundlich“ sein, sich also schneller in der Umwelt abbauen.
Bislang ist dies nur ein frommer Wunsch: Plastik zu recyceln ist technisch knifflig und erfordert teilweise ganz neue Verfahren. „Biokompostierbare“ Kunststoffe gibt es zwar – allerdings verrotten sie häufig nur unter industriellen Bedingungen, aber nicht in freier Natur. Zudem ist das Problem geografisch ungleich verteilt. Laut der Umweltorganisation Ocean Conservancy verantworten nur fünf asiatische Länder die Hälfte des Plastikmülls in den Meeren – China, Indonesien, die Philippinen, Vietnam und Thailand. Dass gerade diese Entwicklungs- und Schwellenländer auf Hightech-Verfahren und Kreislaufwirtschaft umsteigen, erscheint zumindest in naher Zukunft kaum realistisch.
Nötig wäre das allerdings aus eigenem Interesse. Plastikverpackungen überdauern in der Umwelt Jahrhunderte, da sie nicht verrotten, sondern nur von Wind und Wetter zu immer feineren Teilchen zermahlen werden. Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts haben kürzlich Speisefische in der Nord- und Ostsee auf Plastikrückstände untersucht. Fünf Prozent der Fische hatten Kunststoff im Verdauungstrakt, bei Makrelen konnten die Forscher teilweise bei jeder dritten Plastikteilchen nachweisen. „Vermutlich haben die Fische sie für Beute gehalten“, erklärte der Studienleiter Gunnar Gerdts. So landet das Plastik am Ende als Schadstoff bei seinem Erzeuger im Magen. Auch eine Form von Kreislaufwirtschaft.
Link zum Artikel: https://www.sueddeutsche.de/wissen/kunststoff-im-ozean-mehr-plastik-als-fische-im-meer-1.2826984